Vielen meiner Klienten scheint es schwer zu fallen, das Konzept des Selbstmitgefühls zu verstehen und es nicht mit Selbstmitleid zu verwechseln, das sie als selbstzerstörerischen und höchst unangenehmen Geisteszustand beschreiben. Interessanterweise handelt es sich bei diesen Ratsuchenden in der Regel um beruflich sehr erfolgreiche und kompetitive Menschen, die viel geopfert haben, um dorthin zu gelangen, wo sie sich im Leben befinden. Für sie fühlt sich die Idee, Mitgefühl für schwache und verletzliche Aspekte ihrer selbst zu zeigen, wie ein Versuch an, Entschuldigungen für eigene Fehler und Unzulänglichkeiten zu finden. In diesem Blogbeitrag werde ich erklären, wie sich Selbstmitgefühl von Selbstmitleid unterscheidet und wie es zu einer unerschöpflichen mentalen Ressource werden kann, die auch in schweren Zeiten Trost und Hoffnung spendet.
Selbstmitgefühl: Die wichtigste Beziehung in deinem Leben
Es ist leicht, für einem anderen Menschen Mitgefühl zu empfinden. Es ist schwer, uns selbst Mitgefühl zu schenken. Vor allem dann, wenn wir ständig zu dem Schluss kommen, dass wir an unseren Problemen letztendlich selbst schuld sind. Um Verantwortung für eigenes Handeln oder Nicht-Handeln zu übernehmen, ist es nicht notwendig, sich selbst anzuklagen und zu verurteilen. Genauso wenig ist es nötig, wütend auf sich selbst zu sein, um zukünftige Fehler zu verhindern. Selbstmitleid und selbstbezogene Wut untergraben unser Selbstwertgefühl und verstärken den Groll, den wir womöglich bereits gegen uns selbst hegen. Selbstmitgefühl bedeutet, uns sanft daran zu erinnern, dass eine Krise immer auch eine Chance bedeutet. Eine willkommene Gelegenheit, uns dem absolut liebenswerten inneren Kind zuzuwenden, das nichts anderes will, als zu lieben und geliebt zu werden; sich sicher zu fühlen; die Welt zu erkunden; Freude zu empfingen und Leid zu vermeiden. Genau wie jedes andere menschliche Wesen auf der Erde!
Und hier ist der Grund, warum dir Selbstmitgefühl helfen kann, dem Hamsterrad zu entfliehen:
Wir wachsen mit der Vorstellung auf, dass eine gute Ausbildung und gute Arbeitsmöglichkeiten knappe und hart umkämpfte Ressourcen sind. Goldminen, die nur der Stärkste ausbeuten kann. Wir fühlen uns unter Druck gesetzt, die beste Ausbildung zu erhalten und uns vom Kindergarten bis zur Universität als würdig zu erweisen. Wenn wir eine Hochschule besuchen und später unsere Karriere vorantreiben, wird der Wettbewerb nicht weniger. Im Gegenteil, wir konkurrieren weiterhin um Noten, Ansehen, Beziehungen und Chancen. Da nichts 100 % sicher und vorhersehbar ist, müssen wir mehr und mehr tun, um den Gewinn zu maximieren und den Verlust zu minimieren. Je höher wir auf der Leiter klettern, umso mehr wir erreichen und Status erlangen, desto mehr können wir aber auch verlieren! Die Ironie dabei ist, dass wir uns nicht sicherer, sondern unsicherer fühlen. Das führt dazu, dass wir trotz unserer Erfolge den „Selbsterhaltungsmodus“ kaum verlassen und nur selten in den „Wachstumsmodus“ eintreten. Schau dir hierzu Maslows Bedürfnishierarchie an und lerne von den Weisheiten humanistischer Denker wie Carl Rogers und anderer.
Die gute Nachricht ist: Selbstmitgefühl kann uns dabei helfen, vom Selbsterhaltungsmodus in den Persönlichkeitswachstumsmodus zu wechseln, vom Gefühl der Knappheit und des Mangels zum Bewusstsein von Potenzial und innerem Reichtum. Wenn wir uns auf unsere Persönlichkeitsentfaltung konzentrieren, geht es uns plötzlich nicht mehr nur darum, Wohlstand und Status zu gewinnen. Im Gegenteil, wir können Widrigkeiten und Probleme als Gelegenheiten betrachten, um uns selbst Liebe und Mitgefühl zu geben und uns daran zu erinnern, dass wir liebenswerte Menschen sind, auch und gerade dann, wenn uns das Leben hart und ungerecht erscheint.
Selbstmitgefühl ist eine immense Ressource, ein tiefer Brunnen, der im Gegensatz zur Willenskraft nicht erschöpft werden kann. Es ermöglicht uns, uns an die Hand zu nehmen, freundlich zu uns selbst zu sein, uns in schwierigen Momenten zu halten und nicht fallen zu lassen. Selbstmitgefühl ist also der Schlüssel, um eine positive und konstruktive Beziehung mit dir selbst einzugehen; besonders in schwierigen Zeiten, wenn du dich verletzlich fühlst und die Wellen des Lebens auf dich niederstürzen. Selbstmitgefühl ermöglicht es dir, auf diesen Wellen zu surfen und dich auf das zu konzentrieren, was dich emotional trägt: Das Gefühl in Ordnung zu sein mit dem Leben an sich, so wie es ist, und auch mit sich selbst als ein Teil davon.
Selbstmitgefühl in Kürze:
- Selbstmitgefühl bedeutet, freundlich und verständnisvoll mit sich selbst umzugehen, insbesondere in leidvollen Zeiten, wenn man versagt und sich mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten auseinandersetzen muss. Dazu gehört, dass man sich selbst mit der gleichen Wärme, Freundlichkeit und dem gleichen Verständnis behandelt, welches man einem Freund in einer ähnlichen Situation entgegenbringen würde.
- Selbstmitgefühl umfasst drei Schlüsselkomponenten: Selbstmitgefühl, Mitmenschlichkeit und Achtsamkeit.
- Selbstmitgefühl bedeutet, dass man sich selbst mit Verständnis und Mitgefühl begegnet und nicht mit unnachgiebiger Selbstkritik oder harschen Urteilen.
- Mitmenschlichkeit bedeutet anzuerkennen, dass die eigenen Erfahrungen von Leiden, Versagen oder persönlichen Unzulänglichkeiten ein universeller Teil der menschlichen Existenz darstellen und nicht nur für einen selbst gelten.
- Achtsamkeit beinhaltet ein nicht wertendes Gewahrsein der eigenen gegenwärtigen Erfahrung, anstatt sich zu sehr auf die Vergangenheit oder Zukunft zu konzentrieren.
- Das Üben von Selbstmitgefühl kann zu mehr Wohlbefinden, weniger Stress und einem stabileren Selbstwert führen. Es kann deine Stimmung aufhellen und sogar deine Beziehungen verbessern.
Oh, das ist interessant, aber was kann ich jetzt tun?
Der Ausgangspunkt für Selbstmitgefühl ist deine freundliche Hinwendung zu dir selbst als wunderschönes, vielleicht manchmal zerbrechliches, aber immer absolut liebenswertes menschliches Wesen.
Schaue in der Vorstellung auf dich selbst. Sprich oder denke folgende Sätze, die Selbstmitgefühl zum Ausdruck bringen:
(dein Name), du hast so viel investiert und geopfert, um erfolgreich zu sein. Du darfst traurig sein über die Dinge, denen du vielleicht manchmal zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hast.
(dein Name), du hast sich so sehr bemüht, in der Schule, an der Universität, und am Arbeitsplatz Leistung zu zeigen und erfolgreich zu sein. Es ist absolut in Ordnung, dass du manchmal einfach nur eine Pause brauchst und dich nicht mehr dem Konkurrenzkampf aussetzen möchtest.
(dein Name), manchmal triffst du auf andere, die den es besser zu gehen scheint als dir. Vielleicht bist du neidisch, verärgert oder kannst ihnen den Erfolg nicht von ganzem Herzen gönnen, obwohl du es gerne tätest. Das ist in Ordnung! Es ist nicht leicht, zu akzeptieren, dass manches im Leben ungerecht ist und vieles ungleich verteilt. Das ist absolut menschlich und auch das an dir liebenswert.
Was wäre für dich ein gutes selbstmitfühlendes Statement? Teile anderen deine Gedanken mit und hinterlasse einen Komentar.